In diesem Sommer wagte ich aus aktuellem Anlass ein Experiment: Ich las drei Bücher zum Thema Demenz, aus der Sicht der jetzt aktuell betroffenen Angehörigen in der ambulanten Pflege und Betreuung... Drei ganz unterschiedliche Bücher habe ich probiert, zwei von Profis und ein brandaktuelles einer Angehörigen.
Menschen, die Angehörige sind von Menschen mit Demenz, suchen Hilfe, in Beratungsstellen, im Internet, und eben auch in Büchern. Das ging mir nicht anders. Selbst ein Profi, war ich jetzt in der besonderen Situation, auf einmal Angehörige zu sein. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Theorie und Praxis, zwischen professioneller Distanz zu fremden Menschen mit Demenz und zum Erleben der eigenen Angehörigenrolle. Erstrecht, wenn es der eigene Ehemann ist... Hier die Erfahrungen meines Leseexperiments.
1. Versuch: "Das Herz wird nicht dement"
Moment „Das Herz wird nicht dement“ von Udo Baer und Gabi Schotte-Lange. Ersterscheinungsdatum 2013, Untertitel: „Rat für Pflegende und Angehörige“. Erweiterte Neuauflage. Der Titel ist sehr ansprechend, weiß ich doch, dass die emotionale Schwingung lange erhalten bleibt und Menschen mit Demenz über Gefühle lange erreichbar sind. Das Buch lässt mich ratlos zurück. Es ist hübsch gestaltet, liest sich scheinbar leicht, aber je mehr ich es lese, und ich bin fast fertig, beschleicht mich ein seltsames Gefühl, eine Ratlosigkeit über dieses Buch. Hier schreiben keine Personen, die selbst jahrelang in der Altenpflege gearbeitet haben. Die mit den Menschen mit Demenz jahrelang, tagtäglich ringen um die pflegerischen Handlungen. Hier schreiben auch keine pflegenden Angehörigen. Die beiden Autoren bezeichnen sich als „Kreative Leibtherapeuten“, als Sozialpädagogin oder Therapeut.
Sie beschreiben die Gefühle der Menschen mit Demenz wie Angst, Trauer, Schuldgefühle, Scham, Aggression, Ärger, Wut. Von den Gefühlen der Angehörigen ist sehr wenig die Rede. Die immensen Schuld- und Schamgefühle, unter denen ich tagtäglich leide, finden hier keinen Widerhall. Es handelt sich in den Fallgeschichten, die berichtet werden, überwiegend um Bewohner:innen von Pflegeheimen, die dort von den „Kreativen Leibtherapeuten“ aufgesucht und betreut werden. Ein großes Kapitel ist den vielfältigen Kriegserinnerungen und Kriegstraumata gewidmet. Das mag für die Generation unserer Großeltern und vielleicht noch Eltern gelten, aber mein Mann? Jahrgang 1959? Jetzt 65 Jahre alt?
Die Situation ambulant gepflegter, gar von Angehörigen zu Hause gepflegter dementer Menschen wird gar nicht benannt im Buch. Es gibt eine Erläuterung einer Fülle von Nein Zeichen, die hier ausgedeutet werden, anhand derer der Mensch mit Demenz zeigt, dass er etwas nicht will, die ich viele von meinem Mann kenne: Augen schließen, wegtauchen, erstarren, weglaufen, in Hektik verfallen, schweigen… ja, aber wie gehe ich damit um? Klar, mein Mann will nicht geduscht werden, will nicht in die Tagespflege, er will nicht rasiert werden, aber soll ich es dabei belassen?
Die Autoren betonen immer wieder die Notwendigkeit der Geborgenheit, der Fürsorge, der achtsamen, liebevollen Ummantelung des Menschen mit Demenz, des Begleitens und Hinfühlens, emotional Mitschwingens. Ich vermute, sie haben im Feierabend nicht rund um die Uhr einen Menschen mit Demenz um sich. Der moralische Anspruch der Betreuung von Menschen mit Demenz ist hier sehr hoch gehängt. Den Sorgen der Pflegenden wird gerade ein Schlusskapitel gewidmet und auch hier wird nicht differenziert nach pflegenden Angehörigen und professionellen Pflegekräften. Beiden wird unisono Aus-, Weiterbildung, Supervision, Austausch im Team (eher für die Profis) und die Bildung eines Unterstützungsnetzwerks (eher für die Angehörigen) angeboten. Eine „Erlaubniskultur“ wird gefordert, die es allen erlaubt Hilfe anzunehmen. Woher und wie ich als Angehörige diese Unterstützung bekomme oder organisiert bekommen, wird nicht verraten.
2. Versuch: "Dement, aber nicht bescheuert"
Der Titel sprach mich sehr an, ich hätte mir vorstellen können, dass das eine frühbetroffene Person wie mein Mann vielleicht selbst sagt, ich bin vielleicht dement, aber noch nicht bescheuert?! Das Buch von Michael Schmieder, „Dement, aber nicht bescheuert“ kommt aber aus einer ganz anderen Perspektive heraus. Auch dieses Buch wird im Klappentext als sowohl an Pflegende gerichtet wie als Hilfe an die Angehörigen beschrieben. Ich kann das nicht nachvollziehen. Es ist 2015 erschienen. Es berichtet in historischer Rückschau, wie Michael Schmieder die Einrichtung „Die Sonnweid“ damals aufgebaut hatte, wie er die ersten Pflegeoasen geschaffen hatte. Sie Sonnweid war eines der ersten Häuser, das sich zu 100 % auf Menschen mit Demenz konzentrierte. Er berichtet, wie sie damals angefeindet wurden von der Fachwelt. Wie sie in einzigartiger Weise basale Stimulation, Kinästhetik und die Validation von Naomi Feil kombinierten, um Menschen mit Demenz in unterschiedlichen Stadien zu erreichen. Ich lese es gerne, es hat diesen idealisierenden Tonfall, fast wie ein historischer Medizinroman, in dem Tonfall, in dem ich früher selbst sprach, wie erfüllend die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz (im Heim) sein kann. Angehörige kommen so gut wie nicht vor in dem Buch, schon gar keine ambulant pflegenden Angehörigen. Für mich ist in dem Buch in der Situation, in der ich jetzt seit einem Dreivierteljahr bin, auch jetzt in der Eingewöhnungsphase meines Mannes im Heim, nicht ein brauchbarer Ratschlag. Einerseits betont Schmieder, wir lügen Menschen nicht an. Andererseits wird nach Naomi Feil validiert. Wie soll das zusammen gehen? Wer historisch eintauchen will in die Pionierphase der guten Demenzbetreuung, findet in dem Buch eine spannende Lektüre. Wer als Angehörige auf brauchbare Tipps hofft, geht leer aus.
Im weiteren Verlauf des Buches stellt Michael Schmieder sogar das Thema private Bevollmächtigungen ganz in Frage und spricht nahen Angehörigen vollständig die Fähigkeit ab, für ihre dementen Angehörigen stellvertretend gute Entscheidungen zu treffen. Er stellt die These auf, dass nahe Angehörige immer genau die Entscheidungen treffen würden, die gut für sie selbst sind. Das wage ich doch sehr zu bezweifeln…wenn ich überlege, wie schwer ich mir jede einzelne Entscheidung gemacht habe, die ich für meinen Mann treffen musste, kann ich dem wirklich nicht zustimmen.
3. Versuch: "Lückenleben. Mein Mann, der Alzheimer, die Konventionen und ich."
Wie geht es weiter?
Auf diesem Bild haben mein Mann im Frühjahr 2024 zum letzten Mal, Anfang März, gemeinsam auf unserer Lieblingsbank gesessen. Seitdem hat sich in seinem und meinem Leben sehr viel verändert. Ich schreibe selbst an einem Demenzbuch, bin in den letzten Kapiteln...
Gerne können Sie hier eigene Buchtipps, Leseerfahrungen oder ähnliche Gedanken teilen!
Ich danke allen, die hier gelesen haben und mich im letzten halben Jahr begleitet haben.
Monika Müller-Herrmann
P.S. es gibt von mir ein Angebot einer kostenlosen Selbsthilfegruppe, Online, für Angehörigen von Menschen mit Demenz. Schreiben Sie mich an, wenn Sie Interesse haben!
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