Globale Krisen tauchen vermehrt in der Trauerbegleitung auf…
– Ein brutaler Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine begann im Februar 2022 und sorgt seitdem für viel Leid in der ukrainischen Bevölkerung und große Flüchtlingsbewegungen.
- Das Thema Trauer, Flucht, Verlust von Heimat kommt verstärkt auf.
- Wir beobachten während der verschiedenen Krisen, sei es die COVID-19-Pandemie oder die Klimakrise, Angriffe auf die Wahrheit und werden konfrontiert mit Fake News und Verschwörungstheorien, Wissenschaftler:innen und Journalist:innen erleben Anfeindungen.
- Die Einschränkungen der COVID-19-Pandemie hatten vielfältige Auswirkungen auf Abschiednahme und Trauer
- Das Existenzrecht Israels wird bedroht und in Deutschland eskalieren die Demonstrationen.
– Weltweit gewinnen die verführerisch einfachen, von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit geprägten Parolen von Rechtspopulist:innen an Beliebtheit.
- - In Hessen und Bayern fährt die AFD bei den Landtagswahlen ein Rekordergebnis ein.
Was tun, wenn solche globalen Krisen Thema in der Trauerbegleitung werden?
In der Woche, nachdem bei uns in Hessen die AFD zweitstärkste Kraft bei der Landtagswahl geworden war, war es sowohl in der Trauergruppe wie in vielen Einzelberatungen in meiner Praxis ein Thema, dass die politischen Themen der Zeit vielen Angst machen. Sei es, dass jemand vermisst, mit der verstorbenen Partnerin oder dem Partner darüber reden zu können, was sich gerade politisch tut. Sei es, dass eine Klientin mit Migrationshintergrund sich große Sorgen um ihre Zukunft in Deutschland macht. Sei es, dass ein Klient mit jüdischem Hintergrund sich um seine Familie sorgt.
Die Trauergruppe in meiner Praxis ist schon geübt darin, dass all diese Themen angesprochen werden dürfen, die Trauergruppe selbst aber kein Raum für politische Diskussionen bietet. So haben wir es auch während der Coronakrise gehalten. Alle Themen wie Ängste vor der Impfung, Ängste vor Vereinsamung wegen Kontaktsperren, Ängste vor Ansteckung oder Ängste um den Frieden oder vor Diskriminierung dürfen angesprochen werden.
Bei diesen Themen der Klient:innen werden unsere Werte und Moralvorstellungen angesprochen und wir können selbst verletzt werden. Unsere psychologischen Bedürfnisse können auf verschiedenen Ebenen frustriert werden. Belastende Emotionen können die Folge sein. So ist es nicht verwunderlich, dass manche Patient:innen globale Krisen mit in den Therapieraum oder in die Trauergruppe einbringen, weil sie sich durch diese zusätzlich belastet fühlen. Wie gehen wir damit um? Globale Krisen in der Psychotherapie zu thematisieren stellt kein »business as usual« dar: Wir sind selbst unmittelbar mitbetroffen. Patentlösungen haben auch wir nicht parat (noch weniger als sonst). Themen wie die Klimakrise oder die Corona-Schutzmaßnahmen besitzen familienentzweiendes und partysprengendes Potenzial – könnte ihre Thematisierung auch die Therapiebeziehung gefährden? Trotz vieler verständlicher Gründe, globale Krisenthemen zu meiden, sollten wir Patient:innen nicht den Wunsch verwehren, diese Verunsicherungen zu besprechen. Zu ihrem Wohle sollten wir uns bemühen, Wege zu finden, Psychotherapie und Trauerbegleitung in Zeiten vielfältiger Krisen bewusst zu gestalten.
Licht ins Dunkel: Eine Umfrage
Dipl.-Psych. Fabian Chmielewski ist als Psychologischer Psychotherapeut in der Praxisgemeinschaft am Weiltor in Hattingen niedergelassen. Als Supervisor und Selbsterfahrungsleiter unterstützt er die Ausbildung angehender Psychotherapeut:innen. Um mehr darüber zu erfahren, wie es aktuell um die Thematisierung der globalen Krisen »Klimakrise«, »COVID-19-Pandemie« und »Krieg in der Ukraine« in den deutschen Therapieräumen bestellt ist, habe er gemeinsam mit Sabine Maur, Kathrin Macha und Dr. Diana Vogel-Blaschka Anfang 2023 eine große Umfrage unter Psychotherapeut:innen durchgeführt. Teilgenommen haben 1.862 Personen aus allen deutschen Bundesländern, davon 258 männlich, 1.534 weiblich, 11 divers (keine Angabe: 59), im Mittel waren die Befragten 46,5 Jahre alt. Die Fragen bezogen sich überwiegend auf den Zeitraum Mitte 2022 bis Anfang 2023.
Von den drei genannten Krisen wurde in seiner Umfrage die COVID-19-Pandemie am häufigsten von Patient:innen zum Thema gemacht, zudem nahm ihre Besprechung auch am meisten Zeit in Anspruch. Das Schlusslicht bildet die Klimakrise, über die am seltensten und am kürzesten besprochen wurde.
Über den „Toten Winkel der Therapeut:innen“ schreibt er: "Auch wir Therapeut:innen und Trauerbegleiter:innen haben unsere ideologischen Scheuklappen und blinden Flecken. Dies kann eine für Patient:innen hilfreiche Thematisierung globaler Krisen erschweren. Auch unsere Bedürfnisse können durch die globalen Krisen frustriert und unsere Werte verletzt werden. Auch wir können starke Emotionen verspüren. Wir müssen uns deswegen selbst gut beobachten, um mit diesen Aktivierungen und Mechanismen gut umgehen zu können. Wenn wir nicht aufpassen, können wir beispielsweise der Versuchung erliegen, die Hoffnungslosigkeit von Patient:innen aufzulösen, indem wir die Zukunft der Welt rosarot malen und unrealistischen Optimismus versprühen. Auf der anderen Seite können wir selbst in Ohnmacht gegenüber bestimmten Entwicklungen verfallen und keine Handlungsoptionen mehr wahrnehmen. Zudem besteht bei mangelnder Selbstreflexion die Gefahr, dass wir »missionarisch« werden und Patient:innen zu belehren versuchen."
So schreibt Fabian Chmielewski weiter:
"Die Krisen und die mit ihnen verbundenen hitzigen Diskurse lassen auch Therapeut:innen nicht kalt. Von den in unserer Umfrage Befragten gaben 35% an, Auswirkungen der Krisen auf die eigenen Emotionen zu verspüren. An den Freitextantworten unserer Studie lässt sich die emotionale Beteiligung, aber auch die Bandbreite der inhaltlichen Ausrichtung beispielhaft ablesen. Während in Bezug auf die COVID-19-Pandemie auf der einen Seite die Sorge geäußert wird, die eigene Praxis könne zu einem »Hotspot« werden, befürchten andere Kolleg:innen den »Verlust demokratischer Grundprinzipien angesichts einer durch Angst gesteuerten Politik«. Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wird häufig von starkem Mitgefühl berichtet, andere Kolleg:innen kritisieren wütend die »Kriegstreiberei« mancher Politiker:innen. Bei der Klimakrise wird von »Freude an den sozialen Bewegungen« berichtet, auf der anderen Seite wird das Ausmaß der Klimakrise angezweifelt. Große Themen: große Gefühle."
Wie kann ich mich als Therapeutin oder Trauerbegleiterin dazu verhalten?
Selbst mir meiner Ansichten bewusst sein, aber meine politischen Ansichten nicht in die Behandlung hineintragen. Ich habe z.B. selbst den Hausarzt gewechselt, weil dieser mir bei jedem Besuch seine Coronaleugnung unterbreitete, sich weigerte, mich zu impfen oder wegen Corona Kankzuschreiben.
Die Neutralität ist mir eine wichtige Haltung. Gleichwohl arbeite ich nach Rogers und bemühe mich um Empathie, Akzeptanz und authentisches Verhalten. So habe ich Trauernde während der Coronakrise ermutigt, sich in ihrer Einsamkeit immer wieder einmal über Kontakteinschränkungen hinweg zu setzen. Und ich habe keinen Zweifel daran gelassen, dass ich manche Besuchseinschränkungen in der Sterbephase eine Zumutung fand. So zeige ich jetzt auch offen, dass auch mich die politische Lage, vor allem die Mischung aus mehreren Krisen gleichzeitig, betroffen macht.
Einen Raum bieten
Ich versuche, genau hinzuhören, ob es krisenbedingte Belastungen gibt und diesen dann – wenn der/die Patient:in es wünscht - Raum zu geben. Die große Mehrheit der befragten Psychotherapeuten:innen (87%) in der Umfrage von Chmielewski, F., Macha, K., Maur, S. & Vogel-Blaschka, D. (2023) hält dies für sinnvoll. Um therapeutisch hilfreich globale Krisen zu besprechen, sollten Psychotherapeut:innen und Trauerbegleiter:innen einerseits über die Krisenfakten informiert sein, vor allem aber sollten sie sich mit den psychologischen Mechanismen auskennen, die bei der Verarbeitung der globalen Krisen beteiligt sind. Dies war für die wenigsten von uns Bestandteil des Psychologiestudiums oder der Trauerbegleitungsweiterbildung.
Gibt es eine Verantwortung jenseits der Trauerbegleitungspraxis?
In der letzten Woche habe ich mich vermehrt gefragt, wo habe ich als Psychologin und Trauerbegleiterin selbst eine Verantwortung, jenseits meiner Trauerbegleitungspraxis?
Haben wir eine Verantwortung für die Gesellschaft, die über unser Kerngeschäft hinausgeht, das darin besteht, durch Trauer und andere Themen psychisch belastete Menschen wieder hin zu einem sinnerfüllten, lebensfrohen und zufriedenen Leben zu begleiten? Sabine Maur (2022), die Vizepräsidentin des Vorstandes der Bundespsychotherapeutenkammer, sieht uns Therapeut:innen mit Blick auf unsere Berufsordnung auch in der berufsethischen Verantwortung, die ökologischen und soziokulturellen Lebensgrundlagen im Hinblick auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung zu erhalten und zu fördern. Hier sind auch die Kammern und Berufsverbände besonders gefragt. In der zitierten Umfrage stimmten 79% der Befragten der Aussage »Der Berufsstand der Psychotherapeut*innen (Verbände, Kammern) sollte sich dezidierter als bisher gesellschaftspolitisch im Hinblick auf die psychische Gesundheit äußern« zu.
Aber was ist mit meinem persönlichen Verhalten? Ich kaufe für die Verpflegung in meiner Praxis viele Bioprodukte. Ich bemühe mich, wieder wegzukommen von den Wegwerfartikeln, die während der Coronakrise aus hygienischen Gründen notwendig waren. Wie kann ich mich selbst gegen Fakenews, gegen Rechtspopulismus und gegen einen Verfall der demokratischen Kultur engagieren? Wie gehen andere Trauerbegleiter*innen damit um? Und ist die Auseinandersetzung mit dem persönlichen Leid in meiner Praxis nicht schon Engagement genug, so dass ich in meiner Freizeit lebensbejahende, positive Dinge tun will, anstatt Engagements in politischer Parteiarbeit, Verbandsarbeit oder auf Demonstrationen gehen zu müssen? Ich habe mir vorgenommen, vermehrt über diese Themen zu schreiben.
Wie seht Ihr das? Ich bin gespannt auf Eure Kommentare!
Bleibt gesund und krisenfest,
Eure Monika Müller-Herrmann
Literatur
Chmielewski, F „Globale Krisen im Therapieraum“ , Abruf am 13.10.2023, um 14:11 Uhr https://psychotherapie.tools/expertise/blog/globale-krisen-im-therapieraum?etcc_med=Newsletter&etcc_grp=dapt&etcc_cmp=Newsletter_dapt_blog_20231013
Chmielewski, F., Macha, K., Maur, S. & Vogel-Blaschka, D. (2023). Der Einfluss aktueller Krisen auf die Psychotherapie. [Unveröffentlichter Datensatz einer Umfrage unter 1862 Psychotherapeut:innen]
Maur, S. (2022). Klimakrise: Berufsethik und gesundheitspolitisches Engagement. In: K. van Bronswijk, C. M. Hausmann (Hrsg.), Climate Emotions (S. 375–387). Gi
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Andrea Gerlach (Donnerstag, 09 November 2023 15:17)
Das ist eine berechtigte Fragen, die ich mir so detailliert ehrlicherweise noch nicht gestellt habe: Haben wir eine Verantwortung, die über das Kerngeschäft hinausgeht...
Klar, der Ausgangspunkt für die Trauerbegleitung ist in der Regel der Verlust einer nahestehenden Person und im Gespräch liegt der Fokus auf diesen unterschiedlichen Facetten. Was ich jetzt gerade beim Lesen bei mir beobachte ist, dass z.B coronabedingte, erschwerte Rahmenbedingungen immer auch Bestandteil der Gespräche waren und es für mich selbstverständlich war, den Raum dafür zu halten. Aber ich momentan selbst so arge Befürchtungen in Bezug auf den Krieg im Nahen Osten und die spürbaren Veränderungen antisemitischer Art habe, selbst Zukunftssorgen habe, dass ich da nochmal genauer hinschauen muss. Was macht das mit mir? Wie reguliere ich mich? Wie kann ich Sorgen meines Gegenübers hören, aushalten, ohne selbst meine Betroffenheit so groß werden zu lassen oder die meines Gegenübers zu negieren? Spannend! Danke für diese Anregung!