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Von der Ungleichzeitigkeit des Trauerns

Von der Ungleichzeitigkeit des Trauerns

 

 

Trauer braucht Zeit.  Trauernde haben oft ein anderes Zeitgefühl als ihre Umgebung. Während die Umgebung meint, es sei ja schon viel Zeit vergangen seit der Beerdigung, ist das für Trauernde oft nicht so. Viele Trauernde berichten, dass es einen Zeitpunkt gibt, an dem Sie sich weiterhin mit ihrer Trauer auseinandersetzen müssen, während für ihr Umfeld das Leben scheinbar normal weitergeht. Die ersten ein, zwei Wochen direkt nach dem Tod waren wie ein Schock. Die Schleusenzeit ist die kostbare Zeit zwischen Tod und Bestattung. Hier ist oft vieles zu erledigen und zu entscheiden, aber es wird viel angebahnt für den späteren Trauerprozess. Erlaube ich mir, wage ich noch mal eine Aufbahrung? Wage ich es, den / die Verstorbene noch ein paarmal zu berühren, um körperlich zu begreifen, dass sein / ihr Leben jetzt zu Ende gegangen ist? Kann ich Abschied nehmen, erlebe ich die Beerdigung als stimmig, erfahre ich Unterstützung von der Familie und  Freund*innen?

 

 

Nach der Beerdigung spüren viele Trauernde ein großes Loch, eine große Leere. Der / die Verstorbene ist jetzt nicht mehr da, hinterlässt eine große Lücke. Während sich vielleicht vorher alles um die Pflege und Betreuung oder um die Besuche im Hospiz oder Krankenhaus gedreht hat, ist jetzt der Alltag neu zu gestalten. Viele Trauernde klagen über Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, wenig Freude am Kochen und Essen. Andere wenden sich verstärkt den Familienteilen zu, die Ihnen jetzt noch geblieben sind.

 

Für viele berufstätige Erwachsene kommt irgendwann der Punkt, wieder arbeiten zu gehen, und die Schwierigkeit, wie gehe ich mit den Kondolenzbekundungen der Kollegen und Kolleginnen um? Wie gehe ich damit um, wenn mir am Arbeitsplatz noch mal die Tränen kommen oder ich einfach gereizter und dünnhäutiger bin? Und eine Zeitlang erfährt die oder der Trauernde von Familie, Freunden und Kollegen noch ein besonderes Mitgefühl, Anteilnahme und Aufmerksamkeit.

 

 

Dann kommt irgendwann der Punkt, wo Trauernde berichten, dass die Umgebung einfach ihr Leben weiterlebt und sich den neuen Themen des Lebens und Alltags zuwendet. Dieser Moment, in dem Trauernde immer noch sehr beschäftigt sind mit sich, ihren Gefühlen und Stimmungsschwankungen und die Umgebung ihr Leben einfach so weiterlebt, ist nach meiner Erfahrung oft nach ungefähr 4 Monaten. Trauernde Menschen erleben, dass sie sich grundsätzlich neu orientieren müssen und immer noch sehr viel Kraft brauchen, um ihren Alltag zu entscheiden und zu bewältigen. Dieser Punkt im Trauerprozess wird als große Ungleichzeitigkeit erlebt. Die Zeit läuft für Trauernde anderes als für ihre Umgebung.

 

 

Da ist vielleicht die junge Witwe, die jetzt in eine kleinere Wohnung umziehen muss, um sich mit der Miete besser zu arrangieren. Und die jetzt ganz viel aussortieren muss. Da ist vielleicht die ältere Witwe, die jetzt den Grabstein aussucht und oft zum Grab geht. Da ist vielleicht die Tochter in jungen Jahren, die ihre viel zu früh verlorene Mutter schmerzlich vermisst, mit der sie ein inniges Verhältnis hatte und die sie jetzt im Alltag gerne um Rat fragen würde. Da ist der Sohn, der seinen Vater vermisst und sich gerade mit seiner Familie und der Erbengemeinschaft auseinandersetzen muss.

 

 

Sie alle erleben eine ausgesprochene Ungleichzeitigkeit des Trauerns. Sie trauern natürlich noch nach drei, vier oder fünf Monaten. Und wenn sie in meine Praxis kommen, sind sie oft beruhigt, dass ich ihnen sage, ja, nehmen Sie sich die Zeit! Der Tod eines sehr nahestehenden Menschen ist ein großer Verlust, der Trauerarbeit erfordert. Neben dem Trauerschmerz, der Sehnsucht, dem Vermissen des Verstorbenen muss ja wieder der Alltag neu bewältigt werden, evtl. ein Umzug, eine menschliche oder berufliche Neuorientierung, die Aufteilung von Erbe und Nachlass. Oft müssen auch neue Fähigkeiten erworben werden, neue Menschen um Rat gefragt werden, und vielleicht wird genau zu diesem Zeitpunkt eine Trauerberatung oder ein Trauercafé aufgesucht.

 

 

Gleichzeitig beobachten viele Trauernde, dass ihre Umgebung sich schwer tut mit dem Wunsch, immer noch vom Verstorbenen sprechen und erzählen zu wollen.  Eine junge Witwe sagte einmal zu mir: „ich hab fast das Gefühl, meine Freundinnen vermeiden es, den Namen meines Mannes in den Mund zu nehmen…“ Freund*innen und Bekannte, die noch kurz nach der Beerdigung sagten, du kannst Dich jederzeit melden, melden sich jetzt nicht mehr. Und sie erwarten merkwürdigerweise, dass der / die Trauernde sich selbst meldet und selbst Kontakt hält und aktiv pflegt. Eine Trauernde sagte: „Ich bräuchte es mal, dass meine Freundinnen mich anrufen und fragen, wie geht es dir wirklich?“. Im Freundes- und Bekanntenkreis herrscht oft Unsicherheit: Will sie / er noch über den Verstorbenen reden? Sollen wir sie / ihn nicht eher ablenken? Öfter mal einladen wäre schon gut, aber Raum lassen, die Trauer zu zeigen.

 

 

Eine junge Witwe sagte: „Ich bin auf eine Party einer guten Freundin eingeladen, sie feiert ihren Geburtstag. Ich möchte gerne hingehen, weiß aber nicht, wie ich mich verhalten soll? Darf ich weinen? Darf ich schwarz tragen? Darf ich auch mal lachen? Oder denkt man dann gleich von mir, die hat ja ihre Trauer schon ganz überwunden, der geht es ja schon echt wieder gut?“ Die Unsicherheit, wie verhalte ich mich, ist auf beiden Seiten groß.

 

 

Die Unsicherheit, was der Freundes- und Bekanntenkreis, was die Arbeitskolleg*innen, die Sportsfreund*innen im Sportverein usw., was die Umgebung also von mir erwartet, ist groß. Es hilft, immer wieder zu sagen, ruft ihr mich doch mal an, fragt mich, wie es mir geht, und seid nicht erschrocken, wenn ich immer wieder mal weine. Lasst mich immer wieder vom / von der Verstorbenen erzählen. Nur so kann ich die Erinnerung lebendig halten und meinen Schmerz verarbeiten. Fragt nach mir. Zeigt mir, dass auch ihr immer noch an den/ die Verstorbenen denkt. Vermeidet bitte nicht, vom ihm oder ihr zu sprechen! Es ist schön, wenn ihr mich einladet. Habt Verständnis, wenn ich kurzfristig absage, und ladet mich bitte beim nächsten Mal dennoch wieder ein. Und sagt bitte nicht, das Leben geht weiter. Ja, euer Leben geht weiter, mit normalen Höhen und Tiefen. Mein Leben ist immer noch eine Gratwanderung, mit viel stärkeren Schwankungen, mit viel stärkeren Höhen und Tiefen, als ihr Euch vorstellen könnt.

 

 

Wie immer wünsche ich Ihnen, dass sie das alles noch lange nicht brauchen. Wenn Sie gerade akut trauern, lassen Sie sich Zeit und holen Sie sich Hilfe, bei Freundinnen und Freunden oder bei Fachleuten.

 

 

Herzlichst,

 

Ihre Monika Müller-Herrmann

 

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