Sterbebegleitung bei Demenz – ein persönlicher Erfahrungsbericht – 1. Teil
Sterbebegleitung bei Demenz ist ein Auf- und Ab. Anders als bei onkologischen Patienten ist die Prognose oft schwieriger. Studien zeigen, dass es auch den Pflegekräften schwer fällt, die Lebenserwartung einzuschätzen. Befragt, bei wie vielen Demenzpatienten sie ein Versterben innerhalb des nächsten halben Jahres erwartet hätten, wurden 10 % geschätzt. Real verstarben 70 % der BewohnerInnen mit Demenz innerhalb des nächsten halben Jahres.
Bei uns lief es gut. Wir wurden vom Pflegeheim angerufen, um ein Gespräch mit dem Hausarzt gebeten. Es ginge so langsam zu Ende mit der Reni. Ich habe mich nie daran gewöhnt, dass die Pflegekräfte meine Schwiegermutter so ansprachen. Ich hätte mich nicht gewagt, sie so anzusprechen, aber es war der Kosename aus der Kindheit, ihre Geschwister redeten sie so an. Tante Helga und Tante Evi sind längst verstorben, Irene ist die letzte aus ihrer Generation. Sie ist auch die letzte aus der Erstbelegung dieses vor 10 Jahren neu gebauten Pflegeheims. Reni ist vor 10 Jahren dort eingezogen, uns überzeugte damals das Einzelzimmer, das Wohnküchenmodell, Pflegemodell nach Böhm.
Wir kommen im Pflegeheim an und nehmen uns vor, jetzt täglich zu kommen. Ich bin beruhigt, ein Mundpflegeset steht am Bett. Reni öffnet nicht die Lippen, als ich versuche, sie zu befeuchten. Ich nehme mir vor, am nächsten Tag Apfelsaft mitzunehmen für die Mundpflege. Sie isst und trinkt fast nichts mehr, im Schrank stehen noch viele Infusionsflaschen mit Ringerlösung. Wir haben uns gegen eine PEG Sonde entschieden, schon lange. Reni liegt schlafend im Bett, öffnet nur selten die Augen. Der Blick ist noch glaskar, noch nicht gebrochen. Ihre Hände und Füße sind etwas kühl, aber sonst keinerlei Anzeichen eines nahenden Todes.
Die diensteifrige indische Schwester bringt das Abendessen. Den Kartoffelbrei lehnt sie ganz ab, aber den Nachtisch isst sie gerne. Es ist also noch nicht so, dass sie gar nichts mehr isst. Wir gehen etwas ratlos nach Hause. Ich nehme meinen Mann abends in den Arm, tröste ihn. Er sagt traurig: Einerseits habe ich mich schon lange von ihr verabschiedet. Sie ist seit 16 Jahren dement. Ihre Persönlichkeit ist längst weg. Andererseits möchte ich gar nicht, dass sie stirbt. Es ist eine fürchterliche Vorstellung, wenn sie gar nicht mehr da wäre.
Wir machen uns eine Liste von Personen, die wir im Todesfalle benachrichtigen wollen. Es gibt ein Familiengrab, wo bereits sein Vater liegt. Wir müssen kein Grab neu kaufen, es ist vieles schon geregelt. Ich schreibe meiner LIeblingsbestatterin eine Email, dass wir sie bald brauchen könnten. Am nächsten Tag gehen wir wieder ins Pflegeheim. Wir treffen den Hausarzt, den wir beide noch nie gesehen haben, da er Reni erst seit kurzer Zeit von seinem Vorgänger übernommen hat. Er ist der Typ Arzt, zu dem man spontan sofort Vertrauen hat. Er lädt uns zum Gespräch ins Schwesternzimmer. Sehr achtsam, er sei gewohnt, keine ernsten Gespräch im Zimmer der Sterbenden zu führen. Er zwinkert mir zu und sagt, sie sind also die Palliativschwester?! Mein Mann hatte am Telefon also angedeutet, dass ich vom Fach bin.
Er empfiehlt uns, alle Medikamente bis auf die Schmerzmedikamente abzusetzen, keine künstliche Ernährung, keine Flüssigkeitsgabe mehr. Reni sei ein Urgestein des Hauses, es täte ihm sehr leid, aber sie sei seit Monaten bettlägerig, kommuniziere gar nicht mehr und nehme kaum noch am Leben teil. Es sei sehr schwer, zu beurteilen, was sie vom Leben noch hat und mitkriegt. Es sei ihm klar, dass sei nicht einfach für uns. Wir müssten jetzt eben loslassen und dem lieben Gott den Lauf der Dinge überlassen.
Es ist in diesem Aufklärungsgespräch, das perfekt abläuft, für meinen Geschmack ein bisschen zu viel vom lieben Gott und seinem Wirken die Rede, aber schließlich ist das hier ein christliches Haus. Mein Mann ist Atheist. Ich frage mich, wie das auf ihn wirkt. Ich habe Angst, dass Reni in wenigen Tagen stirbt, wir haben noch eine kleine Wochenendreise geplant, eine weitere Dienstreise für mich. Der Arzt hat Recht. Es ist an der Zeit. Sie wird in wenigen Tagen 87 Jahre alt. Und dennoch, obwohl ich Palliativ beruflich erfahren bin, verspüre ich als Angehörige auf einmal Schuldgefühle, die Flüssigkeitsversorgung ganz einzustellen. Ich beobachte mich dabei und denke, wie oft hast du das selbst erzählt. Dass Flüssigkeitsgabe in der Lebensphase keinen Sinn mehr macht… und jetzt sitzt du selbst hier, der Arzt nimmt sich Zeit, ein netter Kerl, jovial und gutmütig, redet vom Loslassen und vom Wirken des lieben Gottes… und du fragst Dich auf einmal, ob das hier alles so sinnvoll ist.
Nach ca. 20 Minuten Gespräch setzt der Arzt seine Visite fort. Ich weiß, dass das jetzt sehr viel Zeit war und gleichzeitig denke ich, viel zu kurz, um meinen Mann darauf vorzubereiten, dass seine Mutter jetzt im Sterben liegt. Wir gehen ins Zimmer zurück, ich nehme meinen Mann in den Arm, er verdrückt ein Tränchen. Wir streicheln Reni und halten ihr die Hand. Beide Hände sind durch Kontrakturen verkrümmt, sie muss mehrere kleine Infarkte gehabt haben in den letzten Jahren, sie kann weder den Händedruck erwidern noch die Hand wegziehen. Woher wissen, ob sie die Hand gehalten haben will? Mike streicht ihr über den Kopf, spricht sie immer wieder liebevoll an.
Die Schwester kommt wieder mit dem Abendessen, das gleiche Spiel wie gestern. Der Kartoffelbrei bleibt liegen, vom Pudding nimmt sie ein paar Löffelchen. Ich tränke den Mundpflegetupfer in Apfelsaft, das nimmt sie gerne, lutscht daran. Sie hat schon sehr lange Schluckstörungen, konnte nur noch angedickte Säfte trinken. Wir sind mit der Pflege hier im Pflegeheim sehr, sehr zufrieden. Wir gehen nach Hause, mein Mann legt sich erschöpft ins Bett. Eigentlich sind wir abends mit Freunden auf ein kleines Konzert verabredet. Er geht nicht mit. Es strengt ihn emotional enorm an.
Ich gehe alleine, bin auch rechtschaffen müde, will aber noch mal etwas Lebensgenuss spüren. Ich genieße die Lifemusik in dem kleinen Salon, genieße das Treffen mit Freunden, komme erst spät zurück. Mein Mann dudelt an seiner E-Gitarre, hat den Blues. Ich glaube, ich konnte mir nie wirklich vorstellen, wie emotional anstrengend die Sterbebegleitung für die engsten Angehörigen ist. Meine Angehörigen starben alle überraschend, teilweise viel zu früh. Mir wird auf einmal klar, ich habe noch nie selbst länger am Bett einer nahen Angehörigen gesessen. Wenn ich jetzt sehe, wie sehr es meinen Mann mitnimmt, obwohl es der ganz natürliche Verlauf ist, bin ich neu beeindruckt von diesem Prozess.
Wir gehen am Sonntagnachmittag wieder hin. Reni wirkt wacher, sieht mit ihren hellen blauen Augen ratlos im Zimmer herum. Ihre Füße und Hände sind wieder warm und gut durchblutet. Mike erzählt ihr von früher, wie sie auf dem Campingplatz waren, wie sie zusammen im Urlaub waren, von ihrem Lebensgefährten, der schon vor ein paar Jahren gestorben ist. Reni brummelt mal, mal seufzt sie, mal schläft sie wieder ein. Dann wirkt sie angestrengt, wenig später verbreitet sich ein Geruch von Stuhlgang im Zimmer. Ich rufe die Schwester in der weißen Tracht, die Reni frisch macht und dann wieder das Abendessen bringt. Eine große Suppentasse voller Schokobrei. Ich ergreife den Löffel, Reni öffnet den Mund. Langsam, geduldig, allmählich reiche ich das Essen an. Zu meinem Erstaunen isst Reni den ganzen Teller leer. Ich bin einerseits erfreut, habe das Gefühl, etwas sehr sinnvolles getan zu haben, andererseits ratlos. Will sie auf einmal doch lieber essen? Ich wische ihr den Mund noch einmal mit Apfelsaft aus, jetzt kneift sie die Lippen wieder zu.
Mike und ich gehen nach Hause. Sterbebegleitung bei Demenz ist ein Auf und Ab. Wir wissen nicht, wie lange Reni noch lebt. Es können ein paar Tage, ein paar Wochen sein. Wie sollen wir uns darauf einstellen? Soll ich alleine wegfahren am Wochenende und Mike bleibt hier? Kann ich meinen Mann in der Situation alleine lassen?
Ich entscheide mich, nicht wegzufahren, mein Mann ist erleichtert. Am Montag gönnen wir uns eine Pause. Ich muss arbeiten und mein Mann merkt, dass er es emotional einfach nicht schafft, täglich ins Pflegeheim zu gehen. Zwei Tage später geht er wieder alleine ins Pflegeheim. Er kommt erleichtert zurück. Sie hat wieder den ganzen Nachtisch gegessen, sagt er. Was habe ich früher gelächelt, wenn Angehörige sich so verhielten. Wir zwingen es ihr nicht rein, wir bieten es nur immer wieder an. Nahrungsverweigerung bei Demenz kann so viele verschiedene Ursachen haben.
Sterbebegleitung bei Demenz ist ein Auf- und Ab. Wir fahren nicht weg am Wochenende, Reni lebt immer noch. Wir gehen hin, manchmal täglich, manchmal jeden zweiten Tag. Das Loslassen ist anstrengend. Ich spüre nach den Besuchen immer die Traurigkeit meines Mannes. Das sind Renis letzte Tage und Wochen. Wir wollen sie begleiten.
Danke fürs Lesen.
Monika Müller-Herrmann
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